Die Deutsche Bundesregierung hat 2012 verboten, dass eine Aktie zur selben Zeit mehrere Besitzer haben darf (Cum-Ex), und 2016 geändert, dass Kapitalertrags-Steuer nach dem Verkauf der Aktie einfach automatisch zurücküberwiesen wird (Cum-Cum-Geschäfte).
Denn mit diesen Steuer-Tricks haben in Deutschland seit 2001 Banken und Börsenbroker wie etwa die Schweizer Privatbank J. Safra Sarasin mit Hauptsitz in Genf für ihre reiche Klientel wie etwa den AWD-Gründer Carsten Maschmeyer aus Hannover oder dm-Drogerieketteninhaber Erwin Müller aus Ulm oder Fleischunternehmer und FC Schalke 04 Aufsichtsratsboss Clemens Tönnies aus Rheda in NRW den Staat jeweils in Millionenhöhe ausgenommen.
Wie funktioniert ein Cum-Ex Geschäft?
Für die Dividendenausschüttung auf eine Aktie (cum) muss der Besitzer A an den Staat 25 Prozent Dividendensteuer bezahlen. Über eine Bescheinigung von der Bank kann er sie sich später zurückholen, weil er ja schon Körperschaftssteuer (Unternehmer) oder Einkommenssteuer (Privatperson) bezahlt hat.
Bereits vor der Dividendenausschüttung und der damit fälligen Steuer hatte ein Händler B die Aktie über einen Leerverkauf an einen Dritten C verkauft.
Nach dem Dividendentag verkauft A nun seine Aktie ohne Dividende (ex) an den Leerverkäufer B. Der liefert die Aktie nun an den Käufer C aus. Auch Investor C bekommt von der Bank eine Steuerbescheinigung, weil er die Aktien zum Zeitpunkt der Dividendenausschüttung formal besessen hat. Mit der Bescheinigung kann er sich Kapitalertragssteuer zurückholen, die er nie gezahlt hat.
Im Ergebnis bekommen Investor A und C eine Erstattung, obwohl die Steuer nur einmal entrichtet wurde. Die Beute teilen sie sich mit dem Leerverkäufer auf dem Rücken der Allgemeinheit.
Wie funktioniert ein Cum-Cum-Geschäft?
Vereinfachte Darstellung eines Geschäfts auf Kosten des Staates, bei dem eine einfache Steuerrückerstattung ergattert wird:
1. Tag vor der Dividendenausschüttung: Ein ausländischer Investor verkauft sein Aktienpaket an eine deutsche Bank und vereinbart gleichzeitig einen Rückauf.
2. Tag der Dividendenausschüttung: Die deutsche Bank erhält von der Aktiengesellschaft eine Dividende und muss darauf 25 Prozent Kapitalertragssteuer an den Staat abführen.
3. Tag nach der Dividendenausschüttung: Weil die deutsche Bank bereits Körperschaftssteuer bezahlt hat und nicht doppelt besteuert werden soll, kann sie sich die 25 Prozent Kapitalertragssteuer zurückholen. Ausländische Aktionäre können das nicht. Nun verkauft die deutsche Bank das Aktienpaket zurück an den ausländischen Aktionär und teilt sich mit ihm die erschlichene Rückerstattung, die dieser ohne den Deal nicht bekommen hätte.
Deutsche Staatsanwälte bezichtigen genau 417 Banken und Börsenhändler, den Fiskus systematisch um 5,3 Milliarden Euro betrogen zu haben.
Doch wie das gemeinnützige Recherchezentrum CORRECTIV aus Essen in NRW heute in einem Newsletter gegenüber GoMoPa.net warnte, ist “Der Raubzug der Superreichen”, wie CORRECTIV die Cum-Ex-Deals nennt, längst nicht vorbei.
CORRECTIV-Reporter Marcus Bensmann schrieb:
Wir konnten aufdecken, dass nicht nur Deutschland, sondern zehn weitere Länder Europas betroffen sind. Es geht um mindestens 55,2 Milliarden Euro.
Mithilfe einer Undercover-Recherche haben wir herausgefunden, dass die Deals bis heute weiter gehen – auch in Deutschland.
Unser Chefredakteur (Oliver Schröm – Anmerkung der Redaktion) und ein Kollege vom ARD-Magazin Panorama (Christian Salewski – Anmerkung der Redaktion) gaben sich als Milliardäre Otto und Felix auf Suche nach einer Investitionsmöglichkeit aus und lockten so einen bislang unbekannten Aktienhändler in die Falle. Er bot uns einen schmutzigen Deal an, mit Aussicht auf Millionengewinne.
Sie hatten schon Erfahrung, so ihre Legende, und wollen nun wieder in das Geschäft einsteigen, einen dreistelligen Millionenbetrag investieren.
Sie erhielten einen Tipp aus aus Dubai. Über eine Briefkastenfirma nahmen sie am 21. Juni 2018 Kontakt zu einem Händler namens Amal Ram auf:
Lieber Amal, Herr Smith (Name geändert) in Dubai berichtete mir von Finanzierungsmöglichkeiten, die Sie im Angebot haben. Ich glaube, die Familie, die ich über ein Single Family Office vertrete, ist grundsätzlich an solchen Geschäften interessiert. Wir haben in den letzten Jahren viele gute Erfahrungen gesammelt (z.B. bei einer Bank in Hamburg).
Er betont, dass die Familie sehr empfindlich in Bezug auf Reputationsrisiken sei. Diskretion vorausgesetzt, stellt Simon M. Keynes ein baldiges Gespräch in Aussicht. Ram möge doch im Vorfeld weitere Unterlagen schicken.
Der Name Simon M. Keynes ist falsch, ebenso die E-Mailadresse, die hinter dem @-Zeichen den Namen der Briefkastenfirma beinhaltet. Die Briefkastenfirma selbst allerdings ist echt. Seit mehr als zehn Jahren ist sie im Handelsregister eingetragen und gehört einem langjährigen Informanten von Schröm, der sie für die Kontaktaufnahme mit Ram zur Verfügung stellt. Einen eigenen Briefkasten zu kaufen, wäre zu verdächtig gewesen: Warum sollte eine alteingesessene Milliardärsfamilie über eine nur wenige Tage alte Firma kommunizieren?
Amal Ram antwortete noch am selben Tag:
Lieber Simon, bezüglich der Verschwiegenheit und des Reputationsrisikos können Sie sich auf mich verlassen. Bitte seien Sie versichert, dass die Märkte nicht dazugehören, die gerade im ‘Spotlight’ sind. Ich werde Ihnen zwei Powerpoint-Präsentationen schicken. Freue mich auf Ihren Anruf und auf ein persönliches Treffen. Mit freundlichen Grüßen, Amal.
Wie besprochen, schickte er bereits am nächsten Tag zwei Präsentationen mit dem Titel “Finance Proposal – Participant” und “Finance Proposal – Term Loan”.
Den Investoren verheißen sie schnell verdientes Geld mit geringem Reputationsrisiko.
Bei Variante eins würden sie nur als Kreditgeber fungieren. So können sie jederzeit behaupten, nicht gewusst zu haben, dass mit ihrem Geld letztlich steuergetriebene Geschäfte gemacht wurden.
Mit Variante zwei könnten sie noch mehr Rendite rausholen. Da würden die Investoren sich am Aktienhandel beteiligen und die Steuer selbst abgreifen.
Es scheint, als hätte Ram eine neue Verpackung für steuergetriebene Aktiengeschäfte gefunden. Das Ergebnis ist das gleiche wie bei Cum-Ex oder Cum-Cum:
Die Performance kommt vom Staat.
Wochenlang gehen E-Mails hin und her. Simon M. Keynes lässt Ram gegenüber durchblicken, dass seine Interessenten einen dreistelligen Millionenbetrag investieren wollen. Ram schickt weitere Unterlagen. Aber nicht alles. Er drängt auf ein persönliches Treffen.
Also werden die beiden Reporter zu Otto und Felix. Ihre Nachnamen muss Ram nicht erfahren. Dass sie sich nicht vollständig identifizieren, ist in ihren Kreisen normal. Man tauscht keine Visitenkarten aus. Um glaubwürdig zu sein, genügt es, dass die richtige Person das Treffen einfädelt – und das ist Simon M. Keynes mit seiner etablierten Briefkastenfirma. Briefkastenfirmen sind bloße Hüllen, die mit Datum und Name in ein Firmenregister eingetragen sind. Sie existieren rechtlich, sind aber wirtschaftlich nicht oder kaum aktiv.
Briefkastenfirmen verfügen bisweilen über einen “Scheindirektor”, der auch eine einfache Putzfrau sein kann. Die Firmeninhaber bleiben im Verborgenen. Oftmals sind es selbst auch nur Mittelsmänner, Vertraute oder Anwälte eines Inhabers oder einer Firma..
Die illustren Brüder, schreibt Keynes, kämen demnächst für zwei Tage zum Shoppen nach London.
Am 7. August 2018 hätte Ram die seltene Gelegenheit, sie für eine halbe Stunde zu treffen.
Für das Treffen mieteten die zwei Reporter, verkleidet als Milliardärssprösslinge und Halbbrüder Felix und Otto aus Deutschland, die aus steuerlichen Gründen in der Schweiz leben, für 2.500 Euro eine Suite im 37. Stock des Hochhauses The Shard.
Durch die bodentiefen Fenster schaut man rechts auf die Tower Bridge, links auf die St. Paul’s Cathedral. Felix trägt eine Breitling-Uhr. Otto hat sich bei einem hanseatischen Herrenausstatter eingekleidet. Alles, damit die Legende glaubwürdig erscheint.
Das Treffen ist für 14 Uhr vereinbart. Um 13.51 Uhr läutet das Telefon. Der Händler ist zu früh. Felix und Otto lassen ihn warten. Erst in 15 Minuten werden sie ihn abholen lassen. Von ihrer Assistentin, die in Wahrheit die Ehefrau eines Kollegen ist.
Der Mann, der unten wartet, ist ein Schüler des Briten Sanjay Shah, einem Mann, der mit seinen Cum-Ex-Geschäften noch einmal alles übertroffen hat, was bis dahin denkbar schien.
Für manche ist Sanjay Shah der König der Steuerräuber.
Mehrere europäische Länder soll er mit Cum-Ex geschädigt haben. Allen voran Dänemark. Hier geht es um1,3 Milliarden Euro. Shah kannte keine Grenzen.
2011 kommt Shah zum ersten Mal die Idee, aus seinem Hedgefonds Solo Capital eine Art Generalunternehmen für Cum-Ex-Geschäfte zu schmieden. So geht es aus einem 14-seitigen Lebenslauf hervor, den Shah handschriftlich für einen seiner Berater verfasst hat.
Normalerweise braucht man mehrere Partner für Cum-Ex-Geschäfte, Banken, Händler, Broker. Shah aber will alles unter einem Dach bündeln, mit niemandem teilen, wird dafür Miteigentümer der Hamburger Bank Varengold.
Am Ende konnte Shah sich die Steuerbescheinigungen quasi selbst ausstellen. In der Szene heißt es: “He only used a printer.” Er habe nur einen Drucker gebraucht.
In Shahs Händen wird das komplexe, vielschichtige System zu einem in sich geschlossenen Kreislauf. Darin rotiert er dieselben Aktien bis zu 20 Mal – jedes Mal wird die Steuer kassiert.
Looping nennt man diese hochgezüchtete Form der Cum-Ex-Trades.
Shahs Angriff auf Dänemark begann 2012, exakt in jenem Jahr, in dem Cum-Ex in Deutschland unterbunden wurde. Dänemark bemerkt ihn erst 2015, als es von britischen Behörden darauf hingewiesen wird. Da lebt Shah längst in Dubai, auf der künstlich angelegten Inselgruppe Palm Jumeirah, wo er mehrere Häuser besitzt.
Er feiert Partys auf seiner Luxusjacht, lässt Popstars wie Lenny Kravitz und Snoop Dogg für Charity-Veranstaltungen nach Dubai einfliegen. Er galt unter den Cum-Ex-Aktienhändlern als verrückter Hund.
Hätte Deutschland rechtzeitig und nicht erst 2015 gewarnt, wären die Dänen wohl gar nicht ausgeplündert worden.
Mittlerweile kann Shah Dubai nicht mehr verlassen.
Staatsanwaltschaften in Europa ermitteln, die dänische, die norwegische, die belgische, die britische und die deutsche.
Als ein deutscher beschuldigter Steueranwalt ihn im Februar 2017 zum Auspacken zu bewegen versucht, versteht Shah aber gar nicht recht, was die Deutschen überhaupt von ihm wollen. “Ich habe doch nur 50 Millionen von denen”, sagt er. So erinnert sich der deutsche Anwalt. Auf schriftliche Fragen der Reporter antwortet Shah nicht.
Nun, im Londoner Wolkenkratzer, betritt einer seiner Schüler die Suite.
Er ist Anfang 30, hat einen dunklen Teint, trägt ein weißes Hemd mit Manschettenknöpfen. Dabei hat er eine gebundene Präsentation.
Fester Händedruck. Die ganze Ausstrahlung: Weder zu unterwürfig noch zu selbstbewusst oder überheblich.
Felix fläzt sich auf die Couch. Etwas Smalltalk über die Hitze in London und der Schweiz.
Otto kommt aus dem Schlafzimmer. Er hat keine Zeit für Geplänkel. Setzt sich auf die Couch, Beine übereinandergeschlagen.
Ram reicht die Präsentation herüber, hinter der die Reporter seit Monaten her sind.
“Financing Presentation – Private and Confidential” steht auf der ersten von 34 gebundenen Seiten.
Otto nimmt sie eher widerwillig entgegen, blättert kurz scheinbar gelangweilt und legt sie wieder auf den Glastisch.
Felix: “Schildern Sie uns doch mal Ihren beruflichen Hintergrund.”
Ram:
Natürlich. Es ist mir ein Vergnügen, Sie beide zu treffen. Also, ich begann direkt nach dem Studium bei einer kleinen Bank namens Maple.
Maple: Die deutsche Tochter des kanadischen Bankhauses war einer der Haupt-Cum-Ex-Player.
Ram erzählt, wie er in Maples Londoner Niederlassung mitten in die Cum-Ex-Reise reingeworfen wurde. Spricht von einer “Feuertaufe”. Jedoch nach fünf Jahren “gab es einen Bruch”.
Bruch bedeutet: 285 Staatsanwälte, Steuerfahnder und Beamte des Bundeskriminalamtes durchsuchen das Bankhaus in Frankfurt. Maple soll den deutschen Fiskus mit Cum-Ex-Geschäften um 450 Millionen Euro betrogen haben.
“Dann hat sich Maple etwas aus dem Markt zurückgezogen.”
Zurückgezogen heißt: Behörden wollen das Geld zurückhaben. Maple kann aber die 450 Millionen nicht aufbringen. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) ordnet die Schließung der Bank an.
Ram zieht weiter zu einem Hedgefonds: Solo Capital von Sanjay Shah. “Da lernst du die Ecken und Kanten des Geschäfts kennen und baust Beziehungen auf, die ich weiter pflege”, erzählt Ram. Vier Jahre. Dann leitet er das Londoner Büro einer kleinen Hamburger Bank namens Varengold, die Shah sich für Cum-Ex-Trades kaufte und um Geld aus dem Dänemark-Raubzug zu waschen.
Es ist eine fatale Vita. Oder eine 1-A-Vita – je nachdem, was man will.
Felix: “Wir haben ja bei ihrem früheren Arbeitgeber in Hamburg in den Caerus Fund investiert.”
Ram:
Ah okay. Ich kenne den Caerus Fund.
Caerus war ein Cum-Ex-Fonds. Für Ram bestätigt die Information, dass Otto und Felix Erfahrung mit den Steuerdeals haben. Er kann jetzt offen reden.
Ram spricht über seinen früheren Chef Sanjay Shah, ohne ihn beim Namen zu nennen:
Ich kann Ihnen dazu den Hintergrund schildern. Es lief einige Jahre richtig gut. Aber es waren zu viele Egos im Spiel. Und das war das Problem. Sie haben es immer bunter und bunter getrieben, bis alles platzte.
Felix: “Man darf nicht zu gierig sein.”
Ram:
Genau!
Ram betont, er habe Solo Capital rechtzeitig verlassen, sechs Monate bevor der Hedgefonds wegen seiner Cum-Ex-Geschäfte ins Visier der Ermittler kam und auseinanderbrach:
Ich sah rechtzeitig die Zeichen der Zeit. Schauen Sie, ich habe Familie. Ich will mich nicht für den Rest meines Lebens immer umdrehen müssen und schauen, ob mir jemand folgt.
Ram beschreibt, wie er nun in London neue Fonds startete. Wie er Banker und Händler zusammenbrachte, die Infrastruktur für den Aktienhandel aufbaute.
Ram:
In meinem Team sind Kollegen, mit denen ich schon früher zusammenarbeitete. Leute an den richtigen Stellen.
Felix: “Leute aus London?”
Ram:
Ja.
Otto meldet sich erstmals zu Wort. Besorgt um den Ruf der Familie will er wissen, ob sich darunter auch Aktienhändler befinden, gegen die in Deutschland ermittelt wird: “Sind das Leute mit einer gewissen Vergangenheit?”
Ram:
Oh nein. Das sind Leute mit Erfahrung. Aber keiner von den Jungs, die jetzt im Rampenlicht stehen.
Felix: “Wir wollen vielleicht wieder in den Markt einsteigen, nachdem es sich etwas beruhigt hat. Mit den Problemen, die wir in Deutschland hatten und solchen Sachen.”
Ram:
Sicher, yeah, okay.
Felix: “Was können Sie uns anbieten?”
Ram:
Vielleicht schauen wir mal in die Präsentation, wenn das für Sie Sinn ergibt?
Auch Otto, der Ram die meiste Zeit nur schweigend fixiert hatte, greift sich jetzt das Dokument. Ram lächelt.
Ram:
Wir haben wahrscheinlich ungefähr sieben Märkte. Die beiden Spitzenreiter sind immer noch Frankreich und Italien.
Er zählt die Länder auf, in denen er steuergetriebene Aktiengeschäfte anbietet. Neben Frankreich und Italien ist Spanien der Hauptmarkt. Norwegen, Finnland, Polen und die Tschechische Republik sind Beifang.
Und was ist mit Deutschland?”, will Felix wissen.
Der Shah-Schüler: